Der Einbrecher, mein Nervensystem und wie es NICHT zum Trauma kam

Ich war noch relativ frisch in die neue Wohnung eingezogen. Es war ein heißer Sommertag und in der Dachgeschosswohnung staute sich die Hitze. Ich hatte alle Fenster aufgemacht in der Hoffnung, eine leichte Brise würde durch die Wohnung wehen.

Es war Wochenende und ich schaute einen etwas gruseligen Film mit Audrey Tatou. Auf einmal hörte ich ein Geräusch in der Küche. Der Parkettboden knackte. Das tat er manchmal, also wird schon nichts sein.

Wieder. Ein Knacken in der Küche. Ich stand auf und ging rüber. Und da steht plötzlich dieser Typ in meiner Küche! Ich schaue ihn entgeistert an. Erstarre zur Salzsäule. Der junge Kerl, der etwas mitgenommen aussieht, macht mit der Hand eine beruhigende Geste und sagt, „ich will nichts, ich will nur wissen, wo es rausgeht!“ Ich schiele mit einem Auge auf mein Portemonnaie, das einen Meter von ihm entfernt auf dem Sofa liegt. Ich glaube ihm und öffne stumm die Wohnungstür. Er geht raus und läuft die Treppe runter. Ich schließe die Wohnungstür und stehe noch minutenlang da, starr vor Schreck, unfähig, mich zu bewegen.

Mir kommt der Gedanke, meinen Vater anzurufen. Zum Glück geht er ans Telefon. Meine Stimme überschlägt sich, während ich ihm erzähle, was gerade passiert ist. Er merkt, dass ich außer mir bin und versucht mich zu beruhigen. Es hilft. Ja. Zum Glück. Langsam werde ich ruhiger. Als wir aufgelegt haben, fängt mein Körper an zu zittern und zu vibrieren. Ich lasse es geschehen, bin etwas überrascht und gleichzeitig freue ich mich, denn ich weiß, das ist ein gutes Zeichen.

Ich schließe das Fenster, durch das der Einbrecher gekommen ist. Direkt vor dem Fenster ist das Dach des Nebengebäudes, auf das man draufsteigen kann. Ich nutze es manchmal als Dachterrasse. Es ist ein bisschen abschüssig und mit Dachpappe bedeckt, aber trotzdem schön um Abends eine Limo zu schlürfen und den Sonnenuntergang zu bestaunen. Der Typ musste irgendwie über die Dächer bis zu meinem Fenster gekommen sein und wusste dann nicht, wie er weiterkommt. Sackgasse sozusagen. Da blieb ihm nur die Möglichkeit, in meine Küche einzusteigen.

Ich sehe das Auto der Vermieter vor dem Haus stehen und gehe runter. Unten angekommen treffe ich die Vermieterin im Hof und ich erzähle ihr, was gerade passiert ist. Ich erblicke den jungen Mann im Hinterhof. Sucht er immer noch den Ausgang? Die Vermieterin, eine resolute Russin, ruft nach ihm und droht ihm lautstark. Dann kommt er auf uns zu.

Leider erinnere ich mich nicht mehr genau an das, was er sagte. Es wurde deutlich, dass er vor irgendjemandem davonrannte oder sich verstecken wollte. Mein Gedanke war „armer Kerl, dem geht’s echt nicht gut.“ Die Vermieterin fragte, ob ich Anzeige erstatten möchte. Nein, wollte ich nicht. Der junge Mann tat mir leid und ich hatte wirklich keine Lust auf die Polizei.

Das Küchenfenster hielt ich von da an immer geschlossen, wenn ich im Nachbarraum war. Der Schreck saß tief, aber nach ein paar Monaten war das Thema durch und ich fühlte mich wieder rundum wohl in meiner Wohnung. Ich wohnte noch zirka 4 Jahre dort – ohne weitere Zwischenfälle dieser Art.

Dass ich dir diese kleine Räuberpistole erzähle, hat einen Grund:

Man kann daran sehr gut erkennen, wie unser Nervensystem in einer bedrohlichen Situation arbeitet.

Wenn wir in Hochstress geraten, passiert normalerweise Folgendes: Als erstes suchen wir Bindung. Wir versuchen, mit den Menschen, in denen wir in der bedrohlichen Situation sind, Kontakt herzustellen. Wenn das nicht gelingt, versuchen wir zu fliehen. Wenn das nicht gelingt, kämpfen wir. Wenn das nicht gelingt, erstarren wir und gehen in den Totstellreflex.

Ich hätte also mit dem jungen Mann reden und ihn fragen können: „Hey, was machst du hier? Wie kommst du in meine Wohnung?!“ Das wäre ein Versuch gewesen, eine Verbindung und damit Sicherheit für mein Nervensystem herzustellen. Dazu war ich nicht in der Lage. Ich hätte fliehen können – aber meine Wohnung wollte ich ihm auch nicht überlassen. Kämpfen schien mir auch unangebracht. Also dann erstarren wir mal, war dann wohl der Impuls aus meinem Stammhirn.

Warum habe ich es nicht mit der Bindungssuche probiert? Es könnte sein, dass mein Nervensystem in frühester Kindheit einmal gelernt hat, dass Bindungssuche nicht funktioniert. Das einzige was funktioniert, ist erstarren.

Was richtig gut war: Als der Typ draußen und meine Wohnungstür geschlossen war und ich langsam wieder zur Besinnung kam, hat sich mein präfrontaler Kortex gemeldet. Etwas in mir wusste, dass es eben doch gut ist, sich an Menschen zu wenden, die Sicherheit ausstrahlen.

So rief ich meinen Vater an. Der tat das Richtige und beruhigte mich. Als ich aufgelegt hatte, fing mein Körper an zu zittern. Der ganze Hochstress, der durch diese furchteinflößende Situation in meinem Körper entstanden war, konnte abgebaut werden.

Diese Erfahrung wurde nicht zu einem Trauma. Ich hatte Co-Regulation durch meinen Vater erfahren. Er hat mir geholfen, mich wieder sicher zu fühlen und mein Nervensystem konnte sich regulieren. So war es einfach nur ein aufregendes Erlebnis, dass mich nach ein paar Monaten nicht mehr beeinträchtigte.

Du willst mehr darüber erfahren, wie unser Nervensystem funktioniert und Übungen kennenlernen, um dich selbst zu regulieren? Dann gehts hier entlang zu meinem Blogbeitrag Nervensystem regulieren und dich selbst besser verstehen (mit 9 einfachen Übungen)

Ute Drechsler

Hey, ich bin Ute!
Ich begleite introvertierte und hochsensible Frauen sowie Menschen mit frühem Trauma dabei, sich selbst besser zu verstehen, ihre Grenzen zu setzen und ihr Leben mit mehr Leichtigkeit zu gestalten. 

Früher hab ich mich oft falsch gefühlt – zu leise, zu empfindsam, zu anders. Heute weiß ich: Ich bin genau richtig so, wie ich bin. Wenn du mehr über mich erfahren möchtest, dann geht es hier entlang: Zur Über-Mich-Seite

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